Zwischen Stolz und Prinzipien
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Essay über eine verlorene Haltung in unserer Gesellschaft
In letzter Zeit bekomme ich immer häufiger den Vorwurf zu hören, ich sei „zu stolz“. Doch in Wahrheit empfinde ich, dass mein Stolz tagtäglich mit Füßen getreten wird – und ich lasse es oft genug zu. Was ich jedoch niemals aufgebe, sind meine Prinzipien. Genau hier liegt ein Missverständnis, das weit über meine Person hinausweist. Es ist ein Spiegel unserer Zeit: einer Gesellschaft, in der Prinzipientreue nicht nur selten geworden ist, sondern oft sogar als Makel gilt.
Wir leben in einer Ära, in der politische Diskurse moralisch überhöht, aber faktisch entkernt sind. Wer mit dem Brustton der Überzeugung für das „Gute“ spricht, wird beklatscht, unabhängig davon, ob das Handeln den Worten auch folgt. Die Wissenschaft spricht hier von "Virtue Signaling" – dem öffentlichen Zurschaustellen moralischer Überlegenheit ohne Substanz. Gleichzeitig hat sich ein zweites Phänomen etabliert: "Moral Licensing". Wer sich einmal als moralisch positioniert hat, erlaubt sich im Anschluss Widersprüche, die man bei anderen laut verurteilen würde.
Diese Dynamik verformt unsere Meinungskultur. Menschen mit klaren Prinzipien, die unbequeme Fragen stellen oder nicht bereit sind, ihre Werte dem Zeitgeist zu opfern, werden schnell ausgegrenzt. Sie passen nicht in das Raster der moralischen Selbstbestätigung. Wer nicht applaudiert, wird verdächtig. Wer nicht sofort Partei ergreift, wird zur Zielscheibe.
Ich selbst stehe oft zwischen den Lagern. Ich bin zu unbequem für die einen, zu berechenbar für die anderen. Ich werde gerufen, wenn es eng wird – und verdrängt, wenn sich Erfolge zeigen. Was bleibt, ist die Erkenntnis: Prinzipien sind nur dann wertvoll, wenn man bereit ist, ihren Preis zu zahlen.
Von Rechten und Pflichten – oder: der vergessene Gesellschaftsvertrag
Doch unsere Krise reicht tiefer. Sie ist nicht nur eine moralische, sondern eine strukturelle. Es ist der Verlust eines grundlegenden Verständnisses, das einst den demokratischen Rechtsstaat trug: Aus Pflichten erwachsen Rechte – nicht umgekehrt.
Unsere Verfassung ist kein Wunschzettel. Sie ist ein Vertrag. Wer Rechte in Anspruch nimmt, trägt Verantwortung. Wer Freiheit genießt, muss sie durch Haltung, Disziplin und Gemeinsinn schützen. Doch heute erleben wir die Umkehrung: Eine Welt voller Anspruchshaltungen – und leerer Verantwortungsformeln.
In der Berufswelt etwa wird über Gehälter gesprochen, bevor Aufgaben definiert sind. Bewerber erklären: „Ich bin es mir wert.“ Aber worauf gründet sich dieser Wert? Auf Selbstbild oder auf Beitrag? Auf Marktleistung oder auf inneres Bedürfnis? Immer weniger Menschen können oder wollen diese Fragen beantworten. Leistung gilt als überholt, Pflichtgefühl als konservativ, Eigenverantwortung als Zumutung.
Ein weiteres Beispiel: das Bildungssystem. Schüler fordern mehr Mitbestimmung, gleichzeitig sinkt die Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen. Lehrer sehen sich als Dienstleister, Eltern als Anwälte ihrer Kinder. Aus dem gemeinsamen Bildungsauftrag wird ein Kampfplatz individueller Erwartungen. Dabei wäre der erste Schritt zur Emanzipation das Anerkennen der eigenen Pflicht.
Richard David Precht – eine Stimme der Erinnerung
Der Philosoph Richard David Precht hat in seinem Buch „Von der Pflicht“ eindrücklich beschrieben, wie sehr unsere Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geraten ist. Er fordert eine Rückbesinnung auf Verantwortung als Fundament der Freiheit. Seine zentrale These: Ohne Pflichtgefühl zerfällt der gesellschaftliche Kitt – denn Rechte ohne Pflichten führen zur Beliebigkeit, zur Auflösung des Gemeinwesens.
Precht geht dabei nicht den Weg des autoritären Rufes nach Gehorsam, sondern betont die ethische Reife, die in der Pflicht liegt. Es geht ihm um den inneren Kompass, nicht um äußeren Zwang. Es geht um eine neue Kultur des Erwachsenwerdens, in der Freiheit nicht nur eingefordert, sondern auch gestaltet und getragen wird.
Mein Fazit: Prinzipientreue ist kein Luxus – sie ist Voraussetzung für Zukunft
Unsere Zeit braucht keine neuen Forderungskataloge, sondern eine neue Kultur der Verantwortung. Wer über Gerechtigkeit spricht, muss über Pflichten sprechen. Wer Freiheit will, muss bereit sein, für sie einzustehen. Und wer Teil einer Gemeinschaft ist, muss sich fragen: Was trage ich dazu bei?
Prinzipien, Pflichtgefühl und Integrität sind keine Relikte vergangener Zeiten. Sie sind das Fundament jeder funktionierenden Gesellschaft. Und sie sind heute nötiger denn je.
Ich habe keine Angst davor, als stolz zu gelten. Wenn Stolz bedeutet, Haltung zu zeigen, Verantwortung zu übernehmen und sich nicht dem Applaus des Augenblicks zu beugen, dann bin ich es gerne.
Denn: Eine Gesellschaft, die nur noch Rechte kennt, verliert irgendwann die Kraft, sich selbst zu erhalten. Und das ist ein Preis, den wir nicht zahlen sollten.
